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Leben in Köln

Faltige Stimmen

Jürgen Schön · 19.08.2019

Der „Experimentalchor Alte Stimmen“ füllt Räume – mit Menschen und Tönen. Foto: Klaus Peter Hörenz

Der „Experimentalchor Alte Stimmen“ füllt Räume – mit Menschen und Tönen. Foto: Klaus Peter Hörenz

Im Alter lässt die Stimme nach. Wer’s glaubt, wird selig. Oder knurrt, schnauft und zischt im Chor.

Irgendwo im Dschungel. Ein leichter Wind lässt die Blätter rauschen. Tiere unterhalten sich. Zikaden zirpen. Irgendetwas knurrt. Ganz leise ist ein Pfeifen zu hören. Vielleicht ist es aber auch kein Dschungel, sondern eine Wiese in Deutschland. Und der Wind lässt das Gras rascheln und eine Grille schnarren.

Ganz einig sind sich die Sängerinnen und Sänger, die beiden Chorleiterinnen Ortrud Kegel und Alexandra Naumann sowie Pianist Simon Rummel da noch nicht. Es wird noch etwas dauern, bis das Stück steht. Schließlich haben sie in dieser Chorprobe erst damit angefangen, es zu entwickeln. Grimassen sollen sie schneiden. Das tut die vierzig Stimmen starke Seniorinnen-Rasselbande auch. Jede eine andere. Dabei sollen Geräusche entstehen. Das Ergebnis: Knurren, Schnaufen, Zischen, Stöhnen und andere, schwer zu beschreibende Laute. „Kuckuck“ ruft eine – und bekommt gleich einen kleinen freundlichen Rüffel von Alexandra Naumann: „Das ist etwas Fertiges, wir wollen etwas erfinden.“ Schließlich soll am Ende ein Musikstück stehen, ein selbst komponiertes.

Stimmen mit Charakter

Musik? Ganz richtig. Denn im Saal des Mülheimer Bezirksrathauses hat sich der „Experimentalchor Alte Stimmen“ versammelt. Sein Markenzeichen: Mitsingen darf nur, wer mindestens siebzig Jahre alt ist. Ein Chor, der mit Erfolg gegen das Vorurteil „Im Alter lässt die Stimme nach“ ansingt. Im Alter ändere sich die Stimme, korrigiert Ortrud Kegel, die den Chor 2010 mit Alexandra Naumann und Bernhard König gegründet hat, die weit verbreitete Meinung. Die Stimme sei nicht mehr so glatt, vielleicht etwas brüchig. Frauen könnten nicht mehr so hoch, Männer nicht mehr so tief singen. Dafür habe die Stimme mehr Charakter, Lebenserfahrung stecke in ihr: „Das kann man hören.“ Genau auf dieser Besonderheit der „faltigen Stimmen“ baut der Chor auf.

Die passt aber nicht in einen klassischen Chor, der ein perfektes Klangbild abliefern will. Viele, die hier mitsingen, wurden aus solchen Chören „ausgetreten“. Wie Ingrid Schloesser, mit neunzig Jahren das älteste Mitglied. Seit sie sechs ist, singt sie in Chören, hätte dort auch gerne weiter gesungen. Dass man sie nicht mehr haben wollte, hatte sie nur hintenrum erfahren. Die „Alten Stimmen“ sind seit fünf Jahren ihre neue Heimat. „Hier ist es kreativ und vielseitig“, strahlt die Liebhaberin von Jazz und Kirchenmusik. Mut und Energie hat sie: Bei einem Konzert steppte sie sogar – mit Rollator.

Auch Marlies wurde aus ihrem damaligen Chor „herauskomplimentiert“. Die 83-Jährige – ihr Nachname bleibt ein Geheimnis – hat schon als Kind gerne gesungen. In einem namhaften Bach-Chor sang sie Sopran. Bei den „Alten Stimmen“ ist sie von Anfang an dabei. Sie schätzt nicht nur die Gemeinschaft der Gleichaltrigen, sondern auch den spielerischen Umgang mit Musik, die Kreativität, die verlangt wird.

Konventionellen Chorgesang wird man hier nicht hören. Zwar stehen zum Beispiel auch Volkslieder auf dem Programm, die aber werden neu arrangiert – voller Überraschungen für die Zuhörer. Da muss sich etwa jede Sängerin für drei Worte aus dem Text entscheiden, nur die darf sie singen. Für den Zuhörer wird so aus einem bekannten Lied ein Hörerlebnis. Für die Sängerinnen eine musikalische Herausforderung, die geistige Beweglichkeit verlangt – ein anderer Chor würde sich das kaum zutrauen.

Sind Männer faul?

Wenn hier immer von Sängerinnen und nicht von Sängern die Rede ist, ist das kein Zufall: Nur etwa jedes zehnte der heute rund fünfzig Mitglieder ist ein Mann. Alexandra Naumann erklärt das demografisch: Männer sterben früher. Peter Frenzen hat eine andere Erklärung: „Männer sind faul, nicht an Neuem interessiert. Sie hören einfach auf, wenn ihr Chor sie nicht mehr haben will.“ Sich selbst kann er damit nicht meinen, denn er sang in vielen Chören, bis ihm der zweite Tenor zu anstrengend wurde. „Singen soll Spaß machen – das finde ich hier.“ Hier singt er von Anfang an mit und organisiert die chorinterne Kommunikation – selbstverständlich per E-Mail.

In den neun Jahren seines Bestehens hat der Chor schon viele erfolgreiche Konzerte gegeben – etwa in Dresden und Essen. Das nächste steht am 2. Oktober in der Alten Feuerwache im Agnesviertel an. Das Programm hat den Arbeitstitel: „Der Vogel, der nachts nicht nach Hause fand“. „Es geht um unseren Lebensraum, um die unterschiedlichen Biotope, in denen jedes Lebewesen seinen Platz und seine Nische findet“, erklärt Ortrud Kegel. Ob dann ein Dschungel oder eine Wiese besungen wird – man wird es hören.

Informationen:

„Experimentalchor Alte Stimmen

Proben jeden 1. und 3. Donnerstag eines Monats, 15–17 Uhr.

VHS-Saal im Bezirksrathaus Mülheim
Wiener Platz
Mülheim

Mindestalter: 70 Jahre. Es wird kein Beitrag erhoben, Spenden sind willkommen. Wer mitmachen will, der melde sich per E-Mail . Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite.

Tags: Chor , Singen

Kategorien: Leben in Köln